Training als Wert an sich

Von Jan Markus Adams

Der Text dient als Vorlage für einen Vortrag, der am 24. 06. 2017 gehalten wurde.

„Warum freust du dich?“, fragte Diogenes einen jungen Mann. „Ich habe den Sieg bei der Olympiade errungen“, erwiderte der stolz. „Also du hast bewiesen, dass deine Mitstreiter im Kampf schwächer waren?“ – „Selbstverständlich, man hat mir doch den Lorbeerkranz verliehen.“ – „Was für eine Ehre ist es, dass man Schwächere besiegt?“, fragte Diogenes.

Einen Sieg bei der Olympiade zu erringen war im antiken Griechenland eine der höchsten und ruhmreichsten Errungenschaften. Zugleich war der zweite Platz die größte Schmach, die einem widerfahren konnte. Zweitplatzierte haben häufig auf Irrwegen und durch schmale dunkle Gassen ihren Rückweg vom Stadion gesucht um Anfeindungen zu entgehen. Doch wie kam es dazu, wo heute „dabei sein ist alles“, als der große olympische Gedanke gehandelt wird?
Leider ist es nicht möglich in eine Zeitmaschine zu steigen um herauszufinden wie tatsächlich von den alten Hellenen gedacht und wie dies gelebt wurde. Wir können jedoch aus antiken Quellen rekonstruieren, dass die Griechen in den Jahrhunderten vor Christi Geburt ihr Tun und Handeln einem jeweiligen Ideal unterordneten.
Von Platon wurde überliefert, wie die Gesichtszüge seines Lehrers Sokrates zum Anlass genommen wurden, diesem einen schlechten Charakter zu unterstellen. Er wurde aufgrund der Physiognomie seines Gesichts als fauler, wollüstiger „Weiberheld“ charakterisiert. Das rief große Empörung der Anwesenden hervor, da seine Anhänger Sokrates für einen rechtschaffenen und tugendhaften Mann hielten. Sokrates selbst aber stimmte der Aussage zu, jedoch mit der Anmerkung, dass er sich nach größtem Bestreben tugendhaft verhalte, obwohl dies wider seine Natur sei. Seine Vernunft hatte Sokrates erkennen lassen, dass tugendhaftes Verhalten richtig sei und er sich daher im Leben dieses Ideals üben müsse.
Das Ideal eines tugendhaften Verhaltens fußte allerdings nicht im reinen Selbstzweck, sondern lag dem Gedanken zugrunde Teil eines großen Ganzen zu sein: der Polis. Also dem Stadtstaat in dem ein Mensch lebte. Im Falle Sokrates‘ und Platons war dies Athen. Aus den Quellen geht hervor, dass sie bestrebt waren dergestalt zu handeln, dass die Polis im Inneren gedeihen konnte und nach Außen geschützt wurde. So ist von Sokrates überliefert, dass er für Athen in den Krieg zog und auch seinem Todesurteil nicht zu entgehen versuchte, da dies eine Missachtung der Gesetze bedeutet hätte
Das bedeutet, entgegen humanistischer Auffassungen, dass die Hellenen nicht die Bildung als höchstes Gut ansahen, sondern die Ausbildung eines starken Körpers in Kombination mit einem starken Geist. Dieses Ideal wurde bekannt als Kalokagathia (καλοκἀγαθία, von καλὸς καὶ ἀγαθός- schön und gut). Die Arbeit, die es erfordert den Körper zu kräftigen wurde als Ergänzung, wenn nicht sogar als Voraussetzung angesehen um tugendhaft zu handeln.

Der Mythos von Herakles am Scheideweg

„Wisse also, dass von allem was gut und wünschenswert ist, die Götter nichts ohne Arbeit und Mühe gewähren. […] willst du deinen Körper in der Gewalt haben, so musst du ihn durch Arbeit und Schweiß abhärten.“ (Arete, aus: Schwab, Gustav: Sagen des Klassischen Altertums. Köln, 2011)

Bereits als Kind und Jugendlicher hatte Herakles große Taten vollbracht. Er hatte jedoch auch Leid und Qual erlitten. Sich seiner Fähigkeiten bewusst, zog er sich zurück um über seinen künftigen Lebensweg nachzudenken. Wie er so da saß und grübelte, sollen zwei Frauen daher gekommen sein. Die eine war Kakia und wird als üppig, prunkvoll gekleidet und stark geschminkt beschrieben, sie lief gleich auf Herakles zu und lockte ihn mit Versprechungen, auf das er ihr nachfolge. An nichts mangeln sollte es ihm. Essen, Trinken und Kleidung in Hülle und Fülle, sollte ihm zuteilwerden, ohne dass er sich dafür anstrengen müsste. Ausruhen sollte er sich auf der Arbeit anderer. Dann wurde die Dame von einer schlicht gekleideten Frau zurechtgewiesen, dass ihr Weg nicht wahres Glück bereitet, sondern lediglich eine Illusion darstelle. Wahres Glück, welches Herakles erfahren würde, wenn er der zweiten Dame namens Arete, nachfolgte, bestehe aus den Früchten der eigenen Arbeit, aus der Ernte selbst gesetzter Saat. Die Liebe der Freunde, sagte sie, würde man nur erlangen, wenn man ihnen nützlich wäre. Bewunderung ob der eigenen Tugend erfahre man nur durch das Wirken guter Taten.
Herakles hörte sich die Reden der beiden an und nachdem sie verschwunden waren, fasste er den Entschluss, den Weg der Tugend zu gehen, statt den des Lasters.
So erlebte er manches Abenteuer und vollbrachte mancherlei Heldentaten. Und dennoch musste er auch weiterhin Leid erdulden. Er war ungerechten und unehrlichen Königen ausgesetzt, die ihm seinen Lohn vorenthielten und er war zuweilen seinen eigenen Charakterschwächen ausgeliefert. Herakles soll gleich zweimal in seinem Leben die eigenen Kinder aus Zorn auf seine Frau erschlagen haben und daraufhin in die Heimatlosigkeit geflohen sein. Kurz gesagt, sah er sich nach seiner Entscheidung für den Weg der Tugend zahlreichen Prüfungen ausgesetzt, die er manchmal meisterte, doch manches Mal auch verfehlte.

Ein Weg der gegangen werden muss

„Oder welches Vergnügen kennst du, die du jeder Lust durch Sättigung zuvorkommst? Du isst, ehe dich hungert, und du trinkst, ehe dich dürstet. Um die Esslust zu reizen, suchst du Köche auf; um mit Lust zu trinken, schaffst du dir kostbare Weine an, und des Sommers gehst du umher und suchst nach Schnee; […]“ (aus: Schwab, Gustav: Sagen des Klassischen Altertums. Köln, 2011)

Nun wollen wir den Mythos philosophisch betrachten. Zu Beginn haben wir es mit einem Menschen zu tun, der sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verorten kann. Ein Mensch, der sich seiner Dispositionen bewusst ist und auf dieser Grundlage ein möglichst gutes Leben führen möchte. Wir haben es mit dem homo sapiens zu tun, dem wissenden Menschen.
Dieser trifft schließlich die Entscheidung ein Leben zu führen, das stetes Streben bedeutet. Die Annehmlichkeiten erfolgen als Belohnung für zuvor bewältigte Anstrengungen. Der Mensch lebt also inmitten einer Kausalkette: will er etwas erreichen, muss er etwas dafür tun. Somit wird er vom homo sapiens, zum homo agens. Er wird zum Handelnden Menschen, der sich eigenverantwortlich seines Lebens annimmt.
Auf diesem Wege muss er manches Unbill erdulden. Wie der Held Herakles wird er private Schicksalsschläge zu ertragen haben, manche davon selbstverschuldet. Er wird sich mit Missgeschicken, Unglück und Ungerechtigkeit konfrontiert sehen. Er wird zweifeln an seiner Entscheidung und mit ihr hadern. Herakles hatte anfangs die Möglichkeit ein Leben zu wählen, bei dem er sich gänzlich abhängig gemacht hätte vom Wohlwollen und Tun anderer. Er hätte jegliche Verantwortung abgeben können und, sofern Kakia, das Laster, ihn nicht angelogen hatte, ein Leben im Überfluss und ohne Anstrengung führen können. Doch er wählte den Weg der Arete, der Tugend. Sie ließ ihn von vorneherein wissen, dass ihr Weg mühsam ist. Er ist geprägt von Denken und Handeln.
Als homo agens hält Herakles sein Glück in den eigenen Händen. Er reflektiert über die Richtigkeit seiner Entscheidungen und besitzt die Möglichkeit zur Veränderung. Anderen gegenüber nimmt er die Verantwortung wahr ihnen zu helfen oder zumindest seine Stärke nicht ungerecht auszunutzen. Sich selbst gegenüber erfährt er die Pflicht sich in seinem Weg weiterhin zu üben um nicht stehen zu bleiben, sondern stetig voranzuschreiten. In diesem Maße wachsen seine Fähigkeiten Situationen abzuschätzen und zu bestehen. Gemeinsam mit seinen Fähigkeiten wachsen seine Möglichkeiten. Er nimmt sich zusehends als einen freien Menschen wahr, der verantwortlich und fähig ist Gewünschtes zu erreichen oder Unerwünschtes abzuwehren. Das Gefühl der Freiheitsfähigkeit, sowie selbstwirksam zu sein, macht ihn zum homo potens, zum fähigen und handlungsmächtigen Menschen.
Für Herakles ist dies ein Weg zum Glück. Besser ausgedrückt müsste man allerdings sagen, es ist der Weg des Glücks. Um Glück zu erfahren muss man diesen Weg permanent gehen. Es gibt nicht eine bestimmte Anzahl an Prüfungen, die bestanden werden müssen um bis zum Lebensende glücklich sein zu können. Stattdessen haben immer wieder Herausforderungen bewältigt zu werden, um vorher, währenddessen oder anschließend einen Moment des Glücks zu erfahren.
Die Wandlung, die Herakles auf seinem Weg erfuhr, vom wissenden über den handelnden hin zum fähigen Menschen, festigt den Entschluss und erleichtert das Gehen des gewählten Weges. Er übt sich in Disziplin und macht sich als Wechselwirkung diszipliniertes Leben zur Gewohnheit.
Den so erreichten Zustand bezeichneten die alten Griechen als Eudaimonia. Der Begriff meint, dass man von einem guten Geist beseelt ist, was durch ein tugendhaftes Leben erreicht wird und sich wechselwirkend in einem solchen ausdrückt. Die eingangs erwähnte Anekdote des Sokrates bestätigt dies. Er hat sich als potentiell nicht tugendhaften Menschen erkannt und um dies zu ändern sich in tugendhaftem Handeln geübt. Dadurch konnte er seine eigenen negativen Dispositionen überwinden oder zumindest bändigen und so zu einem tugendhaften und vorbildlichen Menschen werden.

Trainieren um zu wachsen

Welche Verbindung gibt es nun zwischen Herakles, einer mythologischen Figur der Stärke und Kraft, die lediglich eine Fiktion beziehungsweise Parabel darstellt und Sokrates einem der berühmtesten Denker der Weltgeschichte?
Zunächst einmal dürfen wir uns Herakles, trotz seiner vielgerühmten Körperkraft, nicht so vorstellen wie Arnold Schwarzenegger als ‚Herkules in New York‘ ausgesehen hat…oder vielleicht sogar gerade wegen seiner vielgerühmten Körperkraft?
Sokrates jedenfalls entsprach trotz seiner Geisteskraft sicher nicht unserem Bild vom schwächlichen Akademiker…oder vielleicht sogar gerade wegen seiner Geisteskraft?
Sowohl der fiktive Herakles, als auch der reale Sokrates strebten danach dem Ideal der Kalokagathia zu entsprechen. Dazu mussten sie ihre geistigen und musischen Fähigkeiten schulen, wie auch ihre körperlichen. Die Ausbildung dicker Muskeln stellte damals keinen Wert an sich dar. Die Fähigkeiten zu laufen, springen, reiten, werfen, ringen, boxen, klettern wurden hingegen als wertvoll angesehen. Indem man sie trainierte formte man einen nach klassischem Verständnis schönen, aber auch fähigen Körper. Und sollten manche Muskeln doch, je nach persönlicher Veranlagung oder Gewichtung des Trainingsschwerpunktes, über Gebühr gewachsen sein, stellte dies kein Problem dar, da das Muskelwachstum durch ein ausdauerorientiertes Training erfolgte. Das bedeutet, der Körper war in der Lage seine gesamte Masse mit Sauerstoff zu versorgen. Egal, wie schwer ein Athlet war, das heutzutage bekannte Vorurteil eines Bodybuilders, der nach Erreichen des dritten Stockwerks eines Hauses ein Sauerstoffzelt benötigt, war hinfällig. Man trainierte vorrangig um leistungsfähig zu sein und in der Folge erst einem ästhetischen Ideal zu entsprechen. Darüber hinaus wurde die Disziplin, die tägliches Training erfordert, als Bedingung für moralisch gutes Handeln betrachtet. Sowohl Training, als auch moralisch gutes Handeln erfolgen üblicherweise nicht aus einer momentanen Laune oder Lust heraus, sondern um ein höheres Ziel zu erreichen. Indem man also nicht seinen Lüsten und Launen nachgibt, sondern ihnen zuwider handelt, werden Charakter, Körper und Moral gestärkt.
Diese Herangehensweise ans Training ermöglichte es Herakles zum wahren homo potens, also mächtigen Menschen, zu werden. Sein Körper war in jeder Hinsicht geformt und sein Geist war fähig dies zu nutzen. Er entsprach dem Bild eines vollkommenen Athleten.
Über Sokrates wird gesagt, er sei für Athen in den Krieg gezogen. Wie es heißt im Rang eines Fußsoldaten. Das bedeutet, er hatte keinen Luxus, wie manch ein Adliger und er kämpfte an vorderster Front. Darüber hinaus soll er Hunger, Durst, Hitze und Kälte ertragen haben wie kein anderer. Aufgrund der Quellen ist zu vermuten, dass ihm dies möglich war, aufgrund seines Geisteszustandes, der nach heutigem Verständnis durch Meditation oder Selbsthypnose erreicht würde. Zudem war es für die Bürger Athens üblich sich allmorgendlich im Ringkampf zu üben und Gymnastik zu betreiben.

Calisthenics- schön und stark

Die Gymnastik wurde entweder mit leichten Hanteln oder dem eigenen Körpergewicht betrieben. Heutzutage erfreut sich die letztgenannte Form unter dem Namen ‚Calisthenics‘ (von καλός „schön“ und σθένος „stark“) wieder großer Beliebtheit.
Zu Zeiten Sokrates‘ wurden vermutlich zirkuläre rhythmisch ausgeführte Übungen praktiziert, die ausdauerorientiert waren und nach Möglichkeit von Flöten- und Trommelmusik begleitet wurden. Durch die musikalische Untermalung war es einfacher in einen Trancezustand zu gelangen, der die Übungen effektiver machte. Leider ist über dieses Training nichts Genaues überliefert, ausschließlich Fragmente, die Interpretationen und Spekulationen ermöglichen.
Moderne kalisthenische Übungen hingegen werden linear ausgeführt, wie Klimmzüge oder Liegestütze. Die Atmung ist auch wichtig, doch der Charakter der Übungen erschwert es in einen Flowzustand zu gelangen. Nichtsdestotrotz ermöglicht diese Form körperlichen Trainings eine Verknüpfung von Körper und Geist. Somit stellt das Training an sich bereits eine Möglichkeit dar Glück zu empfinden. Darüber hinaus bereitet es zudem den Weg um zuverlässig auch weiterhin Glücksmomente zu erleben. Aufgrund der geringen Voraussetzungen, die man für ein kalisthenisches Training benötigt, kann man es nahezu überall und jederzeit ausführen. Man ist frei das eigene Glück zu gestalten.
Indem der eigene Körper auf allen Ebenen, senkrecht, waagerecht, diagonal oder kopfüber, bewegt wird, nimmt das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu und auch das Selbstbewusstsein wird gestärkt, da man sich willentlich, aus eigener Kraft, im Raum zu bewegen lernt. So wächst die Fähigkeit zur Freiheit. Die Kontrolle über den Körper begünstigt vielfältige Glückserfahrungen jedweder Art.
Zwar sind die erlernten Fähigkeiten heutzutage nicht mehr zwingend erforderlich um an Nahrung zu gelangen, aber das ist so neu, dass unser Organismus es noch nicht mitbekommen hat. Wir benötigen Bewegung zur Gesunderhaltung unseres Bewegungsapparates und der Organe. Und unser endokrines System belohnt uns mit einem guten Gefühl, wenn wir nach einem angenehmen Training etwas Leckeres essen und trinken.

Ebenso, wie im Mythos ‚Herakles am Scheideweg‘ die Dame Arete der Kakia erklärt, dass Müßiggang zu Unzufriedenheit führt und stattdessen diejenigen Früchte am besten schmecken, die man selber gesät und geerntet hat.

3 Comments on “Training als Wert an sich

  1. Pingback: …and in walked the Hindoos – Jan Markus Adams

  2. Pingback: Vyayam – Jan Markus Adams

  3. Pingback: Heracles‘ Dilemma: Is Strength Really a Virtue? – Jan Markus Adams

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert